«Ferien im Inland ist die richtige Tat!»
Die Grenzen gehen auf. «Doch das hilft dem Schweizer Tourismus kaum», sagt Jürg Schmid. Der Tausendsassa der Ferien- und Hotelbranche erklärt, warum das Tessin boomt, die Städte floppen und Schweizer länger in den Bergen bleiben.
Herr Schmid, die Restaurants und Bars sind wieder offen. Gingen Sie schon aus?
Wir haben zu Hause zwei Monate lang gut gekocht. Aber jetzt habe ich doch gerne wieder auswärts gegessen, einmal im «Widder», einmal im «Storchen» in Zürich.
Hatten Sie kein komisches Gefühl?
Nein, denn die Branche nimmt es sehr ernst mit der Einhaltung der Auflagen. Ich stelle aber eine grosse Zurückhaltung unter den Gästen fest. Kein Wunder, nach all diesen einschüchternden Botschaften. Das Fundament von Gastronomie und Tourismus ist der Wunsch nach Begegnung und Genuss. Das wurde uns entzogen und muss erst wieder aufgebaut werden.
Was, wenn eine zweite Pandemie-Welle folgt?
Wir befinden uns auf einer Gratwanderung. Wir dürfen Gastronomie und Tourismus nicht weiter abwürgen. Immerhin gehören sie zu den grössten Arbeitgebern im Land. Eine zweite Welle würde die Branche nicht verkraften. Deshalb machen
die Auflagen Sinn. Sie sind im Interesse der Gäste und der Betriebe. Ein grosser Widerspruch zur Öffnung sind die «Bleiben Sie zu Hause!»-Plakate. Die Behörden sollten das jetzt lockern.
Profitieren Restaurants von der Öffnung?
Viele können wegen der Auflagen nur die Hälfte ihrer Plätze anbieten. Auch wenn die gefüllt sind, reicht es nicht für einen profitablen Betrieb. Die Produktionskosten in unserer Branche sind hoch und die Margen tief. Das war schon immer so.
Das ist...
Jürg Schmid, 57
18 Jahre lang leitete der Zürcher Schweiz Tourismus. Heute präsidiert er Graubünden Ferien, ist Mitinhaber der Marketing-Agentur Schmid Pelli & Partner und sitzt in Verwaltungsräten von Hotels und Gastrobetrieben. Schmid ist verheiratet und Vater von drei Kindern.
Sie haben diverse Mandate im Tourismus, unter anderem als VR-Präsident von The Living Circle mit den Fünfsternehotels Widder und Storchen in Zürich und dem «Castello del Sole» in Ascona TI. Wie ist denn das Geschäft generell wieder angelaufen?
Das «Castello del Sole» hat Mitte Mai geöffnet, die Sommerferien sind stark nachgefragt. Momentan funktioniert der Tourismus mit umgekehrten Vorzeichen: Tessin top, Zürich Flop.
Tessin top? Trotz der schweren Pandemie?
Das Tessin hat die Pandemie radikal gemanagt und in den Griff bekommen. Zudem leidet die Region nicht so sehr unter fehlenden internationalen Touristen, sie hat einen hohen Anteil inländischer Gäste. Das Tessin stellt für diese momentan den sicheren Süden dar.
Weshalb floppen die Städte?
Ausländer machen hier die Mehrheit der Gäste aus, in unseren Zürcher Hotels sind es 85 Prozent. Doch nun können und wollen amerikanische, asiatische und arabische Gäste nicht reisen. Und das bleibt wohl noch für längere Zeit so.
«Storchen» und «Widder» sind also leer?
Die Auslastung liegt im einstelligen, knapp zweistelligen Prozentbereich. Das ist momentan in allen Städten so. Dass die Restaurants wieder öffnen können, ist ein Wermutstropfen. Denn wie wir in der Branche sagen: «Mit dem Liegen verdient mans – mit dem Sitzen verliert mans.» Die Hotels brauchen also Logiernächte.
Wann erholen sich die Stadthotels wieder?
Das wird mindestens bis Mitte 2021 dauern oder sogar zwei, drei Jahre. Schweizer übernachten traditionell selten in ihren eigenen Städten. Die gute Verkehrsanbindung erlaubt es, nach einem Ausflug in die Stadt wieder nach Hause zurückzukehren. Und dann gibt es noch altbekannte Hemmschwellen wie den Röstigraben. So wäre Genf eine wunderschöne Stadt an bester Seelage mit vielen Kulturangeboten, die es jetzt zu entdecken gäbe.
Wie können Hotels die Durststrecke meistern?
Im Alpenraum werden vielleicht einige im Sommer gar nicht erst öffnen, vor allem weil sie ihren Hauptumsatz im Winter machen. Ansonsten heisst es: Die Kosten im Griff behalten, kreativ sein, mutig bleiben. Das Hotel Widder zum Beispiel hat soeben den 18-Punkte-Koch Stefan Heilemann mitsamt seinem Team eingestellt. Wir investieren in die Spitzenküche, um auch Übernachtungsgäste anziehen zu können. Und es gibt genügend andere Gründe, um auch in der Schweiz die Städte zu entdecken: Kultur, Shopping, zahlreiche Freizeitangebote, Badis.
Sie sind Präsident von Graubünden Ferien. Was ist Ihre Prognose für die Bergregionen?
In Graubünden ist der Buchungsstand für die Sommerferien gut. Die Lage vor- und nachher bleibt unsicher, die Gäste sind zurückhaltend. Erfreulich ist, dass sie vermehrt ein bis zwei Wochen in den Bergen verbringen wollen statt nur Wochenenden. Wir sind wieder Hauptferienziel wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Was ist mit international ausgerichteten Destinationen wie Zermatt oder Interlaken?
Mancher Schweizer wird sich freuen, diese Orte nicht mehr mit grossen Reisegruppen teilen zu müssen. Ferien dort werden dieses Jahr erschwinglicher. Andernorts sinken die Preise aber kaum, dafür müssen wir Verständnis haben. Der saisonale Tourismus ist die grösste Non-Profit-Branche der Schweiz.
Ohne Bergbahnen ist es jedoch schwierig, für Touristen attraktiv zu bleiben.
Die Bahnen dürfen immer noch nicht fahren, auch nicht unter den Auflagen, die für den ÖV gelten. Das kann ich nicht nachvollziehen. Ein grosses Problem ist die fehlende Planungssicherheit. Der Bundesrat entscheidet am 27. Mai, ob die Bergbahnen ab 8. Juni wieder fahren dürfen.
Werden die Bergbahnen überleben?
Das hängt dann vom Winter ab. Denn dann machen die Bergbahnen 85 Prozent des Geschäfts. Herausfordernder sieht es bei jenen mit vielen internationalen Touristen aus: Jungfraujoch, Titlis, Zermatt, Pilatus. Diese haben aber gute Jahre hinter sich und werden nun bestimmt mit kreativen Ideen die Schweizer Gäste umwerben.
Am 15. Juni öffnet die Schweiz die Grenzen zu Deutschland, Österreich und Frankreich. Ist das Fluch oder Segen für den Tourismus?
Als Touristiker bin ich grundsätzlich für offene Grenzen. Aber nüchtern betrachtet, muss ich zugeben: Das hilft momentan zwar der Gesamtwirtschaft, aber kaum dem Tourismus. Im Sommer reisen durchschnittlich fast dreimal mehr Schweizer ins Ausland als umgekehrt.
Sie müssen ein grosser Fan von Bundesrat Ueli Maurer sein. Er rief ins Parlament: «Machen Sie Ferien in der Schweiz!»
Der Appell war herzhaft, ehrlich und nicht nur ein politisches Statement. Das hat mich berührt und stolz gemacht. Ich bin Patriot, sonst hätte
ich nicht 18 Jahre lang Schweiz Tourismus leiten können. Dieses Jahr Ferien im Inland zu machen, ist die richtige Tat.
Sie wirken zufrieden mit der Arbeit des Bundesrats.
Die Massnahmen sind wirtschaftlich pragmatisch, helvetisch klug, und sie erfolgten sehr schnell. Kurzarbeit hilft uns, eine lange Zeit durchzuhalten. Und die zinslosen Kredite sind sehr wichtig für die Sicherung der Liquidität – auch wenn man sich und den nächsten Generationen damit einen schweren Rucksack anzieht. Trotzdem wird es Entlassungen und Konkurse geben.
Was halten Sie von der Staatshilfe für die Swiss?
Die Airline ist systemrelevant für die Schweiz und den Tourismus. Unsere Attraktivität hängt von Direktverbindungen ab, welche die Swiss sichert. Weniger gut kommt die Eventbranche davon. Für diese ist es eine Katastrophe. Niemand weiss, was in sechs Monaten sein wird. Aber Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen wird es wahrscheinlich noch lange nicht geben. Bei Events mit grosser Ausstrahlungs-
kraft braucht es Direkthilfen, diese dürfen nicht verschwinden.
Der Bund sprach zusätzlich 40 Millionen Franken, um den inländischen Tourismus zu bewerben. Reicht das?
Ein guter Entscheid! Es braucht jetzt eine Nachfrageförderung. Man sieht, dass das Parlament hinter dem Tourismus steht, das ist wichtig. Ob das reicht, werden wir sehen.
Wo verbringen Sie Ihre Sommerferien?
Ich bin viel in Graubünden und werde mit der Familie noch eine Woche ins Tessin fahren. Schwiegereltern, Schwager, der ganze Clan wird dabei sein. Auch hier sehen wir einen Trend aus der Corona-Krise: Man rückt zusammen.
Verändert die Pandemie den Tourismus?
Ich glaube nicht an die Propheten, die jetzt sagen, die Welt werde nie mehr sein wie zuvor. Die Sehnsucht zu reisen wird bleiben. Es geht um Bewusstseinserweiterung, um Selbstfindung. Ich sehe zwei Trends aus dem Lockdown: Erstens nehmen Geschäftsreisen ab, da es mehr Videokonferenzen gibt. Und zweitens legen immer mehr Leute Wert auf nachhaltiges Reisen. Das war zwar schon vor Corona so, aber die Natur hat noch an Wert gewonnen. Wir werden weniger fürs Christmas-Shopping nach New York oder für eine Partynacht nach London fliegen.
Das sagt...
Andreas Züllig, 61, Präsident HotellerieSuisse und Gastgeber
«Mit Jürg Schmid haben wir einen Fachmann mit jahrelanger Erfahrung und einer beeindruckenden Tourismuskompetenz. Er hat so manche Krise gemeistert. Dieser Erfahrungsschatz hilft uns nun, den Tourismus gestärkt in die Zukunft zu führen.»
Der Artikel wurde auf schweizer-illustrierte.ch publiziert.
Text von: Onur Ogul und Stefan Regez
Autor des Titelbilds: Geri Born